10/12/2013

Die Weltenschlange

Es war einmal in einem fernen Land ein Junge, der hieß Imin. Er hatte eine Schwester, die Juri hieß. Sie waren am gleichen Tag geboren und sie hatte bei der Geburt seine Ferse in ihrer Hand. Eines Tages entdeckten sie beim Spielen einen riesigen tönernen Bottich, der so groß war, daß Imin einen schweren Fels heranrollte und sich darauf stellte, um hineinzusehen, was darin war.

Er beugte sich hinab und sah eine dunkle glänzende Flüssigkeit, in der sich die Nachmittagssonne spiegelte. Sie roch sehr scharf und mitten drin schwammen zwei paar leuchtende Augen, die ihn anstarrten. Erschrocken wendete er sich ab und schnappte nach Luft. "Was ist das?", fragte ihn seine Schwester und schaute ihn ängstlich an. "Keine Ahnung", meinte er und hielt sich den Kopf.

Am Abend erfuhren die beiden Geschwister, daß es eine in Alkohol aufgelöste Schlange gewesen war und die leuchtenden Augen das Einzige, was von ihr übrig geblieben war. Das erzählte ihnen Tante Chang, während sie Fleischstücke in eine riesige Pfanne hineinwarf, die daraufhin zischten. "Es gibt auch die Weltenschlange", fuhr sie fort. "Sie befindet sich im Erdinnern wie ein Wurm in einem Apfel. Eines Tages wird sie sich aufrollen, herauskommen und alle Kinder verschlingen, die unartig gewesen sind. "Und wo wird sie herauskommen", fragte Juri. Sie saß auf dem Boden und Tante Chang stellte die Platte mit den damfenden Reisschüsseln neben sie ab. "Das weiß niemand", meinte sie und trocknete sich die Hände ab. "Iß jetzt, es ist spät und morgen müssen wir alle früh aufstehen".

Juri und Adrian versuchten zu schlafen. Aber es war heiß und schwül und sie wälzten sich auf ihren Matten hin und her. Irgendwann hielt Juri es nicht mehr aus und stand leise auf. Sie öffnete die Schiebetür und trat ins Freie. Barfuß tappte sie über den Holzboden und angelte nach ihren Sandalen. Sie schob die Tür zur Küche auf und atmete den lehmigen kühlen Geruch ein. Dann schlüpfte sie in die Kammer neben der Küche, die ebenfalls aus Lehm bestand und nichts weiter hatte, als einen Duschkopf von oben und ein Loch am Boden. Sie drehte den Hahn auf und schrie leise auf, als die Tropfen auf ihre Haut knallten. Dann genoß sie das kühle Naß und schloss die Augen. Als sie sie öffnete stand Imin vor ihr. "Was machst du hier?", fuhr sie ihn an. "Du hast mich erschreckt!" "Schau mal, was ich gefunden habe, meinte er. In seiner Hand hielt er einen winzigen toten Vogel. Sein Leib war noch warm und seine Federn lagen glatt an. In der anderen Hand hielt er ein schwarzlackiertes Kästchen mit eingelegten Perlmutt. Er öffnete es und legte den Vogel hinein. "Da ist er erstmal gut aufgehoben, sonst kommt die Katze und frißt ihn", murmelte er. "Ach was, Imin, Katzen essen keine toten Tiere." Trotzdem", meinte er und stellte es ins Regal. Sie schlichen sich wieder in ihre Kammer zurück und waren im nächsten Augenblick eingeschlafen.


Am nächsten Tag gab es nach der Schule riesigen Krach. Juri kam etwas später, weil sie noch bei ihrer Freundin gewesen war. Sie stieß das Tor auf, Imin saß niedergeschlagen da. "Was ist passiert?". "Tante Chang ist furchtbar wütend auf mich, sie hat den Vogel auf den Komposthaufen geworden und reinigt das Kästchen. Sie meinte ich soll mich mal besinnen, ich darf heute auch nicht mehr raus. Er kickte mit dem Schuh ein paar Steine weg und schaute sie verdrießlich an. "Könntest du mir ein paar Sachen bei der alten O besorgen?" Er hielt ihr ein paar Münzen hin und Juri nickte. Sie lief die steile Böschung hinter dem Haus hinunter und rannte die staubige rote Straße entlang, bis sie den winzigen Laden mit den grellbunten Reklamepostern entdeckte.

Sie bückte sich, stieg die drei Stufen hinunter und blinzelte, weil es drinnen stockfinster war. Sie tastete sich an den Regalen entlang und rief laut "Tante O, hier ist Juri! Sind Sie da?". Aus dem Hintergrund hörte sie die hölzernen Perlen des Türvorhangs, und das runzelige Gesicht von Tante O erschien. "Ich möchte drei Eis und zwei Tüten Chips!" "So so, wieso bist du denn heute allein hier?, Wo ist denn dein Bruder?" "Ooch, er darf heute nicht raus, weil er einen toten Vogel gefunden hat und ihn ins schwarzlackierte Kästchen von unserer Mutter hineingelegt hatte. "So?", O schaute sie interessiert an. "Was ist denn in ihn gefahren, daß er solche Dinge macht?" "Das weiß ich auch nicht, ich fand es ebenso merkwürdig. Aber wir hatten an diesem Tag auch eine andere seltsame Entdeckung gemacht. Wir haben eine Schlange in Tante Changs Botttich gefunden." "Ah, ich hoffe, ihr habt davon nichts getrunken!" Tante O lachte leise. "Nein, natürlich nicht...Tante O, was ist denn die Weltenschlange? Gibt es dazu eine Geschichte? Kannst du sie mir erzählen? Biiiiite!" "Die Weltenschlange?", Tante O schaute sinnierend aus dem Fenster. "Na gut", ich erzähle sie dir mein Spatz. Vor langer langer Zeit wanderte ein armer Reisbauer durch die tiefen Schluchten unserer Berge. Es war schon spät, die Sonne ging blutrot unter und er hatte einen weiten Weg vor sich. Da hörte er ein leises Zwitschern. Er horchte und sah, daß ein winziger Vogel am Wegesrand lag. Er hob ihn behutsam auf und bemerkte, daß er aus dem Nest gefallen war. Er kletterte den Baum hinauf und setzte den Vogel wieder vorsichtig hinein. Die Vogeleltern waren unterdessen aufgeregt hin und her geflogen. Aber als er wieder seines Weges ging, kamen sie angeflogen und zwitscherten

"Danke, daß du uns geholfen hast. Wir werden es dir verdenken."

Er bedankte sich und wanderte weiter. Die Nacht war hereingebrochen und es war finster. Da sah er ein kleines Haus am Wegesrand und er machte halt und klopfte an die Tür. Sie öffnete sich und es erschien eine wunderschöne Frau mit langen glatten Haaren und einem weißen Gewand. "Bitte liebe Frau, ich bin ein armer Wanderer auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht."

"Aber natürlich", sagte sie mit einer glockenhellen Stimme und führte ihn in die Stube. Sie war hell erleuchtet und die Tafel war gedeckt. Der arme Bauer war sehr erstaunt, aber da er müde und hungrig war, aß er tüchtig und fiel dann erschöpft ins Bett. Mitten in der Nacht aber erwachte er, er hatte brennenden Durst und wolllte sich in die Küche schleichen, um etwas kühles Wasser zu trinken. Da hörte er ein leises Wispern. Es war der Vogelvater. Er saß am Fenstersims und sagte: "Geh nicht in die Küche! Verlasse dieses Zimmer nicht! Du bist hier in einer Schlangengrube gelandet und die Frau wird dich ihren Kindern zum Fraß überlassen. Sie warten schon auf dich."

Der arme Bauer aber glaubte ihm nicht und öffnete die Tür. Da sah er durch den Spalt tatsächlich, daß die Küche voll mit riesigen Schlangen war. Als sie ihn sahen, öffnete sie ihre Mäuler und schlängelte sich zu ihm. Da schrie er auf und rannte aus der Hütte. Er lief auf die Straße und bemerkte, daß sie ihn verfolgten. Er lief weiter und weiter und bemerkte zu seinem Entsetzen, daß die Straße in einer Sackgasse mündete. Am Ende der Straße war ein riesiger Abgrund. Da hielt er erschöpft inne. Er sah zurück und bemerkte wieder den Vogel. Er war diesmal nicht alleine. "Hab keine Angst", sagte er. Ich und meine Brüder werden Dich beschützen. Ein gewaltiges Rauschen ertönte und er sah nach oben. Der Himmel öffnete sich und ein gewaltiges Heer von weißen Vögeln stürzte sich auf die Schlangen. Sie hieben auf sie ein, bis eine Einzige übrigblieb. Sie öffnete ihr gewaltiges Maul und reckte ihren Leib nach oben. Sie schnappte nach den Vögeln und verschlang sie. Dann stürzte sie zu Boden. Ihre Augen wurden träge und sie schlängelte auf den Abgrund zu. Dann fiel ihr gewaltiger Körper mit Getöse hinein. Der Berg daneben taumelte und brach zusammen. Riesige Gesteinsbrocken fielen auf die Schlange und schütteten sie zu. Der arme Bauer aber lief die Straße zurück und kam nie wieder an diesen Ort zurück."

Die alte O holte ein Päckchen aus ihrer Schürze und zündete sich eine Zigarette an. "Seitdem erzählt man sich, wäre die Weltenschlange in einen hundertjährigen Schlaf gefallen. Sie hat sich tief wie ein Wurm tief in die Erde eingegraben. Wer es schafft sie endgültig zu töten, wird auch die ganzen Vögel in ihrem Inneren befreien. Sie werden dann herauskommen und sich in Friedenstauben verwandeln, die unsere Welt in einen friedlichen Ort verwandeln."

"Wow, alte O, daß war mal wieder ein Hammergeschichte. Und wird sie unartige Kinder wie Imin oder mich verschlingen?" "Nein, wird sie nicht."



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