Es
war einmal in einem fernen Land ein Junge, der hieß Imin. Er hatte
eine Schwester, die Juri hieß. Sie waren am gleichen Tag geboren und
sie hatte bei der Geburt seine Ferse in ihrer Hand. Eines Tages
entdeckten sie beim Spielen einen riesigen tönernen Bottich, der so
groß war, daß Imin einen schweren Fels heranrollte und sich darauf
stellte, um hineinzusehen, was darin war.
Er
beugte sich hinab und sah eine dunkle glänzende Flüssigkeit, in der
sich die Nachmittagssonne spiegelte. Sie roch sehr scharf und mitten
drin schwammen zwei paar leuchtende Augen, die ihn anstarrten.
Erschrocken wendete er sich ab und schnappte nach Luft. "Was ist
das?", fragte ihn seine Schwester und schaute ihn ängstlich an.
"Keine Ahnung", meinte er und hielt sich den Kopf.
Am
Abend erfuhren die beiden Geschwister, daß es eine in Alkohol
aufgelöste Schlange gewesen war und die leuchtenden Augen das
Einzige, was von ihr übrig geblieben war. Das erzählte ihnen Tante
Chang, während sie Fleischstücke in eine riesige Pfanne hineinwarf,
die daraufhin zischten. "Es gibt auch die Weltenschlange",
fuhr sie fort. "Sie befindet sich im Erdinnern wie ein Wurm in
einem Apfel. Eines Tages wird sie sich aufrollen, herauskommen und
alle Kinder verschlingen, die unartig gewesen sind. "Und wo wird
sie herauskommen", fragte Juri. Sie saß auf dem Boden und Tante
Chang stellte die Platte mit den damfenden Reisschüsseln neben sie
ab. "Das weiß niemand", meinte sie und trocknete sich die
Hände ab. "Iß jetzt, es ist spät und morgen müssen wir alle
früh aufstehen".
Juri
und Adrian versuchten zu schlafen. Aber es war heiß und schwül und
sie wälzten sich auf ihren Matten hin und her. Irgendwann hielt Juri
es nicht mehr aus und stand leise auf. Sie öffnete die Schiebetür
und trat ins Freie. Barfuß tappte sie über den Holzboden und
angelte nach ihren Sandalen. Sie schob die Tür zur Küche auf und
atmete den lehmigen kühlen Geruch ein. Dann schlüpfte sie in die
Kammer neben der Küche, die ebenfalls aus Lehm bestand und nichts
weiter hatte, als einen Duschkopf von oben und ein Loch am Boden. Sie
drehte den Hahn auf und schrie leise auf, als die Tropfen auf ihre
Haut knallten. Dann genoß sie das kühle Naß und schloss die Augen.
Als sie sie öffnete stand Imin vor ihr. "Was machst du hier?",
fuhr sie ihn an. "Du hast mich erschreckt!" "Schau
mal, was ich gefunden habe, meinte er. In seiner Hand hielt er einen
winzigen toten Vogel. Sein Leib war noch warm und seine Federn lagen
glatt an. In der anderen Hand hielt er ein schwarzlackiertes Kästchen
mit eingelegten Perlmutt. Er öffnete es und legte den Vogel hinein.
"Da ist er erstmal gut aufgehoben, sonst kommt die Katze und
frißt ihn", murmelte er. "Ach was, Imin, Katzen essen
keine toten Tiere." Trotzdem", meinte er und stellte es ins
Regal. Sie schlichen sich wieder in ihre Kammer zurück und waren im
nächsten Augenblick eingeschlafen.
Am
nächsten Tag gab es nach der Schule riesigen Krach. Juri kam etwas
später, weil sie noch bei ihrer Freundin gewesen war. Sie stieß das
Tor auf, Imin saß niedergeschlagen da. "Was ist passiert?".
"Tante Chang ist furchtbar wütend auf mich, sie hat den Vogel
auf den Komposthaufen geworden und reinigt das Kästchen. Sie meinte
ich soll mich mal besinnen, ich darf heute auch nicht mehr raus. Er
kickte mit dem Schuh ein paar Steine weg und schaute sie verdrießlich
an. "Könntest du mir ein paar Sachen bei der alten O besorgen?"
Er hielt ihr ein paar Münzen hin und Juri nickte. Sie lief die
steile Böschung hinter dem Haus hinunter und rannte die staubige
rote Straße entlang, bis sie den winzigen Laden mit den grellbunten
Reklamepostern entdeckte.
Sie
bückte sich, stieg die drei Stufen hinunter und blinzelte, weil es
drinnen stockfinster war. Sie tastete sich an den Regalen entlang und
rief laut "Tante O, hier ist Juri! Sind Sie da?". Aus dem
Hintergrund hörte sie die hölzernen Perlen des Türvorhangs, und
das runzelige Gesicht von Tante O erschien. "Ich möchte drei
Eis und zwei Tüten Chips!" "So so, wieso bist du denn
heute allein hier?, Wo ist denn dein Bruder?" "Ooch, er
darf heute nicht raus, weil er einen toten Vogel gefunden hat und ihn
ins schwarzlackierte Kästchen von unserer Mutter hineingelegt hatte.
"So?", O schaute sie interessiert an. "Was ist denn in
ihn gefahren, daß er solche Dinge macht?" "Das weiß ich
auch nicht, ich fand es ebenso merkwürdig. Aber wir hatten an diesem
Tag auch eine andere seltsame Entdeckung gemacht. Wir haben eine
Schlange in Tante Changs Botttich gefunden." "Ah, ich
hoffe, ihr habt davon nichts getrunken!" Tante O lachte leise.
"Nein, natürlich nicht...Tante O, was ist denn die
Weltenschlange? Gibt es dazu eine Geschichte? Kannst du sie mir
erzählen? Biiiiite!" "Die Weltenschlange?", Tante O
schaute sinnierend aus dem Fenster. "Na gut", ich erzähle
sie dir mein Spatz. Vor langer langer Zeit wanderte ein armer
Reisbauer durch die tiefen Schluchten unserer Berge. Es war schon
spät, die Sonne ging blutrot unter und er hatte einen weiten Weg vor
sich. Da hörte er ein leises Zwitschern. Er horchte und sah, daß
ein winziger Vogel am Wegesrand lag. Er hob ihn behutsam auf und
bemerkte, daß er aus dem Nest gefallen war. Er kletterte den Baum
hinauf und setzte den Vogel wieder vorsichtig hinein. Die Vogeleltern
waren unterdessen aufgeregt hin und her geflogen. Aber als er wieder
seines Weges ging, kamen sie angeflogen und zwitscherten
"Danke,
daß du uns geholfen hast. Wir werden es dir verdenken."
Er
bedankte sich und wanderte weiter. Die Nacht war hereingebrochen und
es war finster. Da sah er ein kleines Haus am Wegesrand und er machte
halt und klopfte an die Tür. Sie öffnete sich und es erschien eine
wunderschöne Frau mit langen glatten Haaren und einem weißen
Gewand. "Bitte liebe Frau, ich bin ein armer Wanderer auf der
Suche nach einer Bleibe für die Nacht."
"Aber
natürlich", sagte sie mit einer glockenhellen Stimme und führte
ihn in die Stube. Sie war hell erleuchtet und die Tafel war gedeckt.
Der arme Bauer war sehr erstaunt, aber da er müde und hungrig war,
aß er tüchtig und fiel dann erschöpft ins Bett. Mitten in der
Nacht aber erwachte er, er hatte brennenden Durst und wolllte sich in
die Küche schleichen, um etwas kühles Wasser zu trinken. Da hörte
er ein leises Wispern. Es war der Vogelvater. Er saß am Fenstersims
und sagte: "Geh nicht in die Küche! Verlasse dieses Zimmer
nicht! Du bist hier in einer Schlangengrube gelandet und die Frau
wird dich ihren Kindern zum Fraß überlassen. Sie warten schon auf
dich."
Der
arme Bauer aber glaubte ihm nicht und öffnete die Tür. Da sah er
durch den Spalt tatsächlich, daß die Küche voll mit riesigen
Schlangen war. Als sie ihn sahen, öffnete sie ihre Mäuler und
schlängelte sich zu ihm. Da schrie er auf und rannte aus der Hütte.
Er lief auf die Straße und bemerkte, daß sie ihn verfolgten. Er
lief weiter und weiter und bemerkte zu seinem Entsetzen, daß die
Straße in einer Sackgasse mündete. Am Ende der Straße war ein
riesiger Abgrund. Da hielt er erschöpft inne. Er sah zurück und
bemerkte wieder den Vogel. Er war diesmal nicht alleine. "Hab
keine Angst", sagte er. Ich und meine Brüder werden Dich
beschützen. Ein gewaltiges Rauschen ertönte und er sah nach oben.
Der Himmel öffnete sich und ein gewaltiges Heer von weißen Vögeln
stürzte sich auf die Schlangen. Sie hieben auf sie ein, bis eine
Einzige übrigblieb. Sie öffnete ihr gewaltiges Maul und reckte
ihren Leib nach oben. Sie schnappte nach den Vögeln und verschlang
sie. Dann stürzte sie zu Boden. Ihre Augen wurden träge und sie
schlängelte auf den Abgrund zu. Dann fiel ihr gewaltiger Körper mit
Getöse hinein. Der Berg daneben taumelte und brach zusammen. Riesige
Gesteinsbrocken fielen auf die Schlange und schütteten sie zu. Der
arme Bauer aber lief die Straße zurück und kam nie wieder an diesen
Ort zurück."
Die
alte O holte ein Päckchen aus ihrer Schürze und zündete sich eine
Zigarette an. "Seitdem erzählt man sich, wäre die
Weltenschlange in einen hundertjährigen Schlaf gefallen. Sie hat
sich tief wie ein Wurm tief in die Erde eingegraben. Wer es schafft
sie endgültig zu töten, wird auch die ganzen Vögel in ihrem
Inneren befreien. Sie werden dann herauskommen und sich in
Friedenstauben verwandeln, die unsere Welt in einen friedlichen Ort
verwandeln."
"Wow,
alte O, daß war mal wieder ein Hammergeschichte. Und wird sie
unartige Kinder wie Imin oder mich verschlingen?" "Nein,
wird sie nicht."
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